Maximilian | Kurzgeschichte

von Katharina Münz

Maximilian

»Ooga-Chaka Ooga-Ooga.«

Dieser bescheuerte Wecker! Paul grunzte und zog die Decke über den Kopf.

»Ooga-Chaka Ooga-Ooga. Ooga-Chaka Ooga-Ooga.«

Scheiße. Er drehte sich um und tastete mit zusammengekniffenen Augen nach seinem Handy. Was für eine bescheuerte Idee, sich Hooked On A Feeling als Weckermelodie herunterzuladen! Geboren im Zustand extatischer Begeisterung, nachdem er Guardians Of The Galaxy am vergangenen Samstag dreimal hintereinander angesehen hatte. Fünf Tage später stand fest, dieser Klingelton würde das Wochenende nicht überleben, aber nun war erst einmal Freitagmorgen und er hatte definitiv keinen Bock auf Schule. Zudem heute eine Deutschklausur anstand.

Nein. Er wollte nicht aufstehen. Mit einem Grunzend wälzte er sich auf die andere Seite und zog die Decke über den Kopf.

»Paul, dein Wecker hat geklingelt!« Mas Stimme verkündete die unerträglich gute Laune einer unheilbaren Frühaufsteherin. »Aufstehen, mein Großer!«

»Nein«, nuschelte Paul ins Kissen, aber dann fuhr er quieckend hoch. Etwas Kaltes und Nasses berührte seinen Rücken, der unter der Decke hervor lugte. »Oh Mann! Kannst du denn nie aufpassen, Ma? Jetzt ist Max wieder rein gewitscht!« Er wehrte den riesigen schwarzen Kater ab, der mit seiner feuchten Nase versuchte, jeden Quadratzentimeter von Pauls Gesicht zu benetzen.

Mas unterdrücktes Kichern verkündete, dass sie den kleinen Teufel mit Absicht hineingelassen hatte. »Frühstück ist fertig! Wer als erster unten ist, darf sich den Zeitungsteil aussuchen!«

Paul ächzte, rollte sich über den Kater hinweg, dem das auch noch zu gefallen schien, aus dem Bett und zog sich hastig an. Das Sweatshirt halb über den Kopf gezogen, hielt er inne. Erpressung! Wieso fiel er immer wieder auf Mas fiese Masche hinein? Er seufzte und gab sich selbst die Antwort: Wenn er nicht vor Lisa am Tisch war, würde sie den Sportteil der Zeitung nehmen. Einfach nur, um ihn zu ärgern. Wunderte es jemanden, dass Paul kleine Schwestern hasste? Also zumindest seine. Nein!

 

Nachdem er Paul beim Überholen auf der Treppe fast zu Fall gebracht hatte, witschte der Kater unmittelbar vor ihm ins Esszimmer.

»Boah, geh runter da, Max!« Saß das Vieh nicht auf Pauls Stuhl und beäugte die dampfende Waffel auf dem Teller, als wäre es seine eigene? Er hatte doch wohl nicht …? Paul schubste ihn runter.

Völlig ungerührt machte der Schwarze ein paar Schritte und sprang auf Lisas Platz.

Na, da konnte er gerne sitzen.

»Oh, ist Max nicht absolut niedlich?«, zwitscherte seine Schwester ekelerregend gut gelaunt und tänzelte um den Tisch herum.

Paul unterdrückte ein Seufzen, schmierte Sirup auf die Waffel und biss hinein. Für einen Moment überlegte er, ob er nicht angebracht gewesen wäre, im Bio-Unterricht mehr aufzupassen. Die Mendel‘schen Erbgesetze hatten ihn nicht wirklich fasziniert, aber es würde ihn schon interessieren, auf welchem Chromosom sich das Lerchen-Gen vererbte, das er ganz gewiss nicht abbekommen hatte.

»So ein süßer, süßer Kater-Bub!«

Paul verdrehte die Augen.

»Ich glaube, unser Max hält sich ganz bestimmt für einen Menschen!« Lisa schnappte ihren Teller und setzte sich auf Paps‘ Stuhl. Der Glückliche musste erst um neun im Büro sein.

»Nein, tut er nicht!«, gab Paul kauend Antwort. Nicht unbedingt, weil er anderer Ansicht war. Eher, um zu widersprechen.

»Doch, tut er doch!«

»Nein, tut er nicht!«

»Doch, tut er! Wieso sonst sitzt er immer auf einem Stuhl und schaut, als ob er ein Junge wäre? Und weshalb lässt er sich geduldig Puppenkleider anziehen und läuft sogar mit Hemdchen und Pulloverchen herum?«

Paul schielte auf seine Nase, um seiner Schwester klar zu machen, was er von ihr hielt. »Gib nur acht, dass niemand vom Tierschutzverein davon erfährt, was du mit dem armen Kerl anstellst!«

»Ich stelle überhaupt nichts mit ihm an. Er macht das alles ganz freiwillig. Nicht wahr, Ma?«

Ma kam herüber und schenkte Orangensaft nach. Sie lächelte ihr dämliches Mutter-Tochter-Verständnis-Gesicht und strich über den Kopf des Katers. »Es stimmt schon, irgendwie scheint es ihm Spaß zu machen.«

Paul griff den Sportteil und verschanzte sich dahinter. Es war so peinlich, Ma unterstützte seine Schwester auch noch in ihrem Wahn und fotografierte den Kater in den unmöglichen Verkleidungen, in die Lisa ihn steckte. Er warf einen Seitenblick auf den Schwarzen. »Willst du nicht lieber in die Küche gehen und mit den anderen frühstücken?«

Hinter der Kücheninsel erklang lautstarkes Schmatzen. Die anderen drei Terror-Tiger machten sich ohrenscheinlich über ihre Fressnäpfe her.

»Bibiiie?« Der Kater legte den Kopf schief und sah Paul an. »Mmrau?«

Es war unheimlich, aber manchmal hatte Paul das Gefühl, als ob das Tier mit ihm sprechen würde.

Paps kam im Pyjama aus dem Schlafzimmer und zwinkerte seinem Sohn zu. »Na, alles senkrecht?«

»Klaro.« Paul reichte seinem Vater den Sportteil. »Was meinst du, wie geht das Freitagsspiel aus?«

Paps hob den Daumen.

»Boah, schon so spät!« Paul sah auf die Uhr. »Ich muss los!«

»Vergiss dein …« Das Krachen, mit dem Haustür ins Schloss fiel, die würgte Mas Stimme ab.

Er setzte den Helm auf und schwang sich aufs Mountainbike. Freitag. Das sagte alles aus. Wenigstens sah es nicht nach Regen aus.

 

Nach der Schule schob Paul das Rad in den Schuppen und zog den linken Ärmel hoch. 13:47 Uhr. Scheiße. Er hatte seinen eigenen Rekord für den Heimweg knapp verfehlt. Und jetzt einen Bärenhunger.

In der Diele roch es nach Pfannkuchen. Er warf seinen Ranzen auf die Bank und schleuderte die Schuhe von den Füßen. Sein Magen knurrte.

»Paul?« Vom Brummen des Dunstabzugs gedämpft, drang die Stimme seiner Mutter aus der Küche. »Wie war Deutsch?«

Wie wohl. Paul knurrte und ging sich die Hände waschen. Freiwillig.

»Schon gut, ich frag nicht.« Ma strich liebevoll über seinen Rücken und er duckte sich weg. Das peinliche Getue konnte ihm gestohlen bleiben. »Holst du bitte deine Schwester? Wir können essen.«

»Wenn‘s sein muss …« Er nahm die Treppe in vier Sätzen, klopfte am Türblatt, von dem ihm dämliche Hello Kittys angrinsten, und öffnete im selben Moment. »Das darf doch nicht wahr sein!« Paul fasste sich an den Kopf.

In der Mitte des Albtraums in Pink und Rosa, der Lisas Zimmer darstellte, kniete seine Schwester und hielt eine Leckerlistange hoch. Vor ihr stand der schwarze Teufel auf seinen Hinterbeinen und – Paul traute seinen Augen nicht – er folgte mit tastenden Schritten dem vor ihm zurückweichenden Leckerbissen.

»… vier, fünf, sechs. Braver Max, gut gemacht!«

»Verflucht, Lisa, so geht das nicht!«

»Immer musste mir alles kaputt machen!« Mit einem theatralischen Schluchzen sprang sie auf, rannte hinaus und er folgte ihr die Treppe hinunter.

»Das ist unnatürlich! Nicht wahr, Ma?«

»Was ist unnatürlich?«

»Dass Lisa den Kater zwingt, auf Hinterbeinen zu laufen.«

Ma hielt kurz damit inne, Pfannkuchen auf die Teller zu verteilen. »Wenn er es doch von sich aus macht …?« Ihre Stimme klang unsicher.

»Für Leckerli, Ma! Leckerli! Die Viecher machen doch alles dafür!«

Wie zur Bestätigung setzte sich Garfield neben dem Tisch in Positur, legte seinen Kopf schief und guckte drollig. Die Bedeutung des Wortes Leckerli war dem roten Kater wohl bewusst. Dafür gab er sogar frisch gefangene Beute aus.

»Ach Paul, jetzt hast du das Wort gesagt – geh, und gib Garfield bitte eines. Sonst lässt er die nächste Maus hier drinnen springen und wir müssen wieder Möbel rücken.«

Paul stand auf, um Garfields Belohnung zu holen. Hinter Mas Rücken streckte er Lisa die Zunge heraus. Schwestern waren so … Also zumindest seine.

»Du bist doch nur neidisch, weil dein Kater nur faul herumliegt, wenn er nicht frisst«, bemerkte Lisa mit einem Seitenblick auf Garfield.

»Neidisch, pah! Es ist schlicht nicht normal, wenn eine Katze auf den Hinterbeinen läuft. Ihr gesamter Körperbau ist auf den Vierfüßlergang ausgerichtet. Denk nur daran, welche Veränderungen im Knochenbau der menschlichen Hüfte stattgefunden haben im Vergleich zu anderen Säugetieren. Wegen des aufrechten Gangs!« Paul erinnerte sich an einen Film, den er im Bio-Unterricht gesehen hatten. Irgendeine BBC-Produktion, die viel spannender war als das Gelaber seiner Lehrerin. Sonst wäre ihm das nämlich nie im Gedächtnis geblieben.

»Hört, hört, der Herr Professor hat gesprochen«, feixend hieb Lisa in die Kerbe in Pauls Gedanken.

Er stöhnte. »Auf jeden Fall ist es schädlich für Max‘ Gelenke. Sag du doch mal was, Ma. Sonst ist dir doch die Gesundheit der Kater immer das Wichtigste.« Während er Garfield von den Leckerbissen gab, hörte er nicht hin, was seine Mutter zu Lisa sagte.

Der Tonfall allein reichte um zu erkennen, dass es sich um vor Verständnis triefenden Mutter-Tochter-Quatsch handelte.

»Abgesehen davon ist es einfach nicht artgerecht.« Paul betonte das Wort genau so, wie Ma es bei ihren Vorträgen über gesunde Katzenernährung immer tat. »Lisa vermenschlicht den Kater. Dadurch entfremdet sie ihm seinen Artgenossen!«

»Nein, das wird er nicht!« Lisas Augen blitzten.

»Wird er sehr wohl! Oder warum, glaubst du, haut Garfield Max in letzter Zeit ständig eine runter? Doch nur wegen deiner Sonderbehandlung.«

Wie zur Bestätigung für Pauls Worte hob Garfield seinen runden Po, schlenderte hinüber zu Max und zog ihm fünf Krallen über den Scheitel.

 

Das Freitagsspiel verlief unspektakulär wie immer, abgesehen von dem fiesen Abseitstor, das der Schiri natürlich nicht pfiff, weil es vom gerade angesagten Liebling der Sportnation getreten wurde.

Nach dem Abendessen zauberte Paps mit verschmitztem Grinsen eine DVD-Hülle aus seiner Aktentasche. »Schaut mal, was ich geschossen habe!«

»Nicht wirklich!«, quiekte Lisa. »R.E.D.

»Und R.E.D. 2 – Älter, härter, besser«, ergänzte Paul und kramte freiwillig Chipstüten aus dem Vorratsschrank. »Klasse, Paps, das wird eine tolle Filmnacht!«

»Dass ich das erleben darf«, flüsterte Ma während des Vorspanns, »dass meine beiden Kinder ausnahmsweise mal ohne Gestichel einträchtig nebeneinander auf dem Sofa sitzen …«

Paul rollte die Augen, weil Mütter wirklich nie die Klappe halten können, wenn es angebracht wäre.

 

»Der Film war echt gut«, sagte Paul zu Paps und warf die letzte Handvoll Chips in den Mund.

»Die Filme«, korrigierte Lisa, und er hob die Hand, um sie an den Haaren zu ziehen.

»Keinen Streit, bitte!« Ma setzte wieder einmal ihre Katastrophenmiene auf.

Paul winkte ab. »Nur Spaß. Bin eh zu müde.« Er gähnte herzhaft. »Ich geh dann mal ins Be…«

»Wer zuerst im Bad ist!«, quiekte seine Schwester und rempelte sich an ihm vorbei in die Diele.

 

»Aaahhh!« Ein markerschütternder Schrei drang in Pauls Tiefschlafphase. »Aaahhh! «

Er setzte sich im Bett auf. Es war stockdunkel, sogar die Straßenlampe vor seinem Zimmerfenster erloschen, was bedeutete, dass es zwischen ein und fünf Uhr nachts sein musste.

»Weeeg daaa! Neeeiin!«

Was war das?

»Hilfeeeee! Gehen Sie weg! Hilfee!«

Er identifizierte Mas Stimme, die so gellend schrie. Ohne Licht zu machen, sprang er auf, griff die Boxershorts von seinem Stuhl und zog sie auf dem Weg zur Tür an. Rücksichtslos rempelte er Lisa beiseite, die ebenfalls zur Treppe wollte, und sprang in drei Sätzen hinab.

»Wer sind Sie? Was tun Sie hier? Gehen Sie weg!«

Mas Geschrei führte ihn in Richtung Wohnzimmer.

An der Tür zum Elternschlafzimmer überrundete Paul seinen Vater, der die wirren Haare raufte – und blieb wie angewurzelt unter der Wohnzimmertür stehen.

Vor dem TV-Möbel stand seine Mutter. Sie zitterte am ganzen Leib, ihr Gesicht war aschfahl, was nicht nur dem Übermaß an Nachtcreme zuzuschreiben war, die sie allabendlich auf ihre Haut schmierte. Als sie Paul hereinkommen hörte, sah sie zu ihm und deutete mit ausgestreckem Arm auf das Sofa. »Was macht dieser … dieser Mann hier?«

Paul beugte sich vor und erstarrte.

Seine rechte Hand schoss vor und hielt Lisa zurück, die ebenfalls ins Zimmer gerannt kam, die Linke presst er reaktionsschnell auf ihre Augen.

Dieser Anblick – er war mit Sicherheit nicht für eine Zehnjährige geeignet.

Denn Mutters Hand wies auf einen jungen Mann Mitte zwanzig, der rücklings, mit lasziv gespreizten Beinen auf dem Sofa lag.

Nachtschwarzes Haar fiel ihm ebenso glatt wie glänzend ins Gesicht, seine weit aufgerissenen Augen schimmerten hellgrün.

Und er war splitterfasernackt.

Paps rempelte sich an Paul vorbei und erwischte Ma gerade noch, bevor sie die Augen verdrehte und umkippte. »Verflucht, Emma, mach keinen Scheiß. Der Fernseher ist nagelneu!« Er legte sie in den Sessel und bedeutete Paul, seine Schwester aus dem Raum zu schieben.

»OK, und jetzt?« Nachdem Paul die Tür abgeschlossen hatte, stellte er sich neben Paps.

Der schwieg. Man hörte Großvaters alte Schrankuhr ticken und das Werfen der Autotüren von den Nachbarn, die zur Frühschicht ins Opelwerk fuhren.

Paul starrte den jungen Mann an, dessen Blick ihm seltsam bekannt vorkam. Seine weiße Haut kontrastierte stark mit dem schwarzen Haar, das dicht wie ein Fell seine Brust, Arme, Beine und … den Teil oberhalb seiner Beine bedeckte.

Das Gesicht des Fremden verzog sich zu einem unbeholfenen Lächeln. Er öffnete seinen Mund. »Mmrau!«

Mmrau? Paul starrte auf die Lippen, die ihn leicht geöffnet angrinsten.

Spitze Eckzähne ragten über eine blendend weiße Kauleiste hinaus.

»Max?« Paul räusperte sich, weil seine Stimme quietschte. »Bist du das, Max?«

»J-ja«, sagte der junge Mann. Er hob sein linkes Bein steil in die Luft und versuchte, mit seinem Kopf einen Bereich unterhalb seiner Körpermitte zu erreichen.

Paps‘ Atem pfiff.

Der junge Mann richtete sich auf und ein vorwurfsvoller Blick bohrte sich in die Stehenden. »Wieso geht das nicht?«

»Heilige Scheiße.«

Paul sah an seinem Vater hoch, dessen Gesicht eine graue Färbuing mit einer Tendenz zum Grünlichen angenommen hatte.

Paps ließ sich auf den Boden sinken. »Menschenskinder, Maximilian. Was für ein Glück für dich, dass Emma den Kastrationstermin erst für nächste Woche angesetzt hat.«

Copyright © 2016 Katharina Münz | Autorin, Alle Rechte vorbehalten. Bitte nicht kopieren, weitergeben, teilen. Respekt dem Urheberrecht.