Gastbeitrag: Das Inzidenz-Paradox

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Markus Grisse analysiert das Inzidenz-Paradox
– warum Ungeimpfte immer der Buhmann sind

+++ Warum die Inzidenz der Geimpften meiner Ansicht nach IMMER besser sein und unter der Inzidenz der Ungeimpften liegen muss – selbst wenn wir beide Gruppen gleich testen würden +++

„Inzidenz bei Geimpften und Ungeimpften – ein immenser Unterschied“ – so titelte die Rheinische Post in der vergangenen Woche. Und wie viele andere Medien und Einrichtungen auch wollte die Rheinische Post damit verdeutlichen, dass es unter Ungeimpften einen wesentlich höheren Anteil an Neuinfektionen gibt als unter Menschen mit vollständigem Impfschutz.

Ich gehe jetzt her und sage: Selbst wenn wir Geimpfte und Ungeimpfte im selben Umfang testen würden, MUSS die Inzidenz der Geimpften IMMER (mit einer einzigen Ausnahme) niedriger liegen, als die der Ungeimpften – selbst wenn in absoluten Zahlen die Neuinfektionen mehrheitlich Geimpften zuzuschreiben sind.

Ich habe als vereinfachtes und hoffentlich allseits leicht verständliches Rechenbeispiel folgende Rahmenbedingungen angenommen:

Für alle beispielhaften Berechnungen gilt:
80 Mio. Einwohner
5% Infektionsquote pro Jahr

(Alle folgenden Beispiele sind in der beigefügten Tabelle und Grafik von links nach rechts angeordnet.)

Beispiel 1:

In einer komplett ungeimpften Bevölkerung ergeben sich damit 80 Mio. x 5% = 4 Mio. Infektionen pro Jahr.

Ungeimpfte Infizierte = 4 Mio.
Geimpfte Infizierte = 0 (0,00%)
Infizierte gesamt = 4 Mio.

Die Ungeimpften-Inzidenz sowie Gesamtinzidenz je 100.000 Einwohner (umgerechnet auf einen 7-Tage-Durchschnitt) liegt somit bei etwa 96. Eine Geimpften-Inzidenz gibt es nicht, da ja in diesem Beispiel noch keiner geimpft ist.


Beispiel 2:
75% der o.g. Bevölkerung sind geimpft. Der Impfschutz beträgt volle 100%.

Ungeimpfte Infizierte = 1 Mio.
Geimpfte Infizierte = 0 (0,00%)
Infizierte gesamt = 1 Mio.

Ungeimpften Inzidenz: 96 – die Infektionsquote bleibt ja gleich, also identische Inzidenz je 100.000 Einwohner
Geimpften-Inzidenz: 0 – da voller Impfschutz


Beispiel 3:
75% der o.g. Bevölkerung sind geimpft. Trotz Impfung gibt es keinen Impfschutz (Schutzwirkung = 0%)

Ungeimpfte Infizierte = 1 Mio.
Geimpfte Infizierte = 3 Mio. (75,00%)
Infizierte gesamt = 4 Mio.

Ungeimpften Inzidenz: 96 – die Infektionsquote bleibt weiterhin gleich gleich, also identische Inzidenz je 100.000 Einwohner
Geimpften-Inzidenz: 96 – ohne Impfschutz = gleiche Infektionswahrscheinlichkeit wie Ungeimpfte


Alleine am Beispiel 3 kann man sehen, dass die Geimpften-Inzidenz maximal der Ungeimpften-Inzidenz entsprechen kann. Ohne jegliche Schutzwirkung der Impfung stecken sich Geimpfte gleichermaßen wie Ungeimpfte an. Die Inzidenz ist dann in beiden Gruppen identisch.

Die Geimpften-Inzidenz kann lediglich dann die Ungeimpften-Inzidenz übersteigen, wenn die Impfung eine NEGATIVE Schutzwirkung entfalten würde, d.h. Geimpfte eine höhere Infektionswahrscheinlichkeit hätten als Ungeimpfte.

Ich spiele mal weiter:


Beispiel 4:
75% der o.g. Bevölkerung sind geimpft. Die Schutzwirkung der Impfung beträgt 50%

Ungeimpfte Infizierte = 1 Mio.
Geimpfte Infizierte = 1,5 Mio. (60,00%)
Infizierte gesamt = 2,5 Mio.

Ungeimpften Inzidenz: 96 (wen wundert’s…)
Geimpften-Inzidenz: 48

Die Infektionswahrscheinlichkeit der Geimpften ist entsprechend der Schutzwirkung in diesem Beispiel halbiert, daher hälftiger Inzidenzwert – und das obwohl es in absoluten Zahlen mehr geimpfte Infizierte gibt als ungeimpfte.


Beispiel 5:
75% der o.g. Bevölkerung sind geimpft. Die Schutzwirkung der Impfung beträgt 25%

Ungeimpfte Infizierte = 1 Mio.
Geimpfte Infizierte = 2,25 Mio. (69,23%)
Infizierte gesamt = 3,25 Mio.

Ungeimpften Inzidenz: 96 (wen wundert’s…)
Geimpften-Inzidenz: 75

Die Infektionswahrscheinlichkeit der Geimpften beträgt entsprechend der Schutzwirkung in diesem Beispiel ein Viertel ggü. Ungeimpften, daher liegt die Geimpften-Inzidenz auch um ein Viertel niedriger als die der Ungeimpften – und das obwohl Geimpfte fast 70% (!) aller Neuinfektionen ausmachen.


Nach meiner persönlichen und subjektiven Auffassung kann die mediale Diskussion um Ungeimpfte vor allem deshalb so aufrecht erhalten werden, weil man vor allem die Inzidenzwerte miteinander vergleicht, nicht jedoch auf die absoluten Zahlen dahinter schaut. Das hängt allerdings auch damit zusammen, dass es so gut wie keine Informationen darüber gibt, wie sich die Neuinfektionen nach Impfstatus aufteilen.

Mir liegen bislang lediglich Indikationen aus zwei Regionen Deutschlands vor:

Die Hansestadt Lübeck hat zuletzt am 12.11.2021 ihre Infektionszahlen nach Impfstatus gegliedert veröffentlicht. In allen Altersgruppen ab 20 Jahren entfielen die Neuinfektionen mehrheitlich auf Menschen mit vollständigem Impfstatus, im Schnitt auf rund 61% der Personen ab 12 Jahre.
Leider hat die Hansestadt Lübeck diese Veröffentlichung eingestellt und weist jetzt nur noch den Verlauf der unterschiedlichen Inzidenzen aus…

Der Landkreis Schleswig-Flensburg verzeichnet mit Stand 18.11.2021 in allen Altersgruppen ab 18 Jahren Neuinfektionen mehrheitlich durch vollständig Geimpfte, in vier Altersgruppen sogar zu mehr als drei Vierteln.

Der relative Anteil der Geimpften an ALLEN Infektionen ergibt sich rein rechnerisch lediglich aus dem Zusammenspiel zwischen Impfquote und der Schutzwirkung der Impfung. Die allgemeine Infektionswahrscheinlichkeit spielt dabei keine Rolle.
Wenn nun also in einzelnen Altersgruppen mehr als drei Viertel der Neuinfektionen auf vollständig Geimpfte entfallen, dann muss dies angesichts hoher Impfquoten rechnerisch zwangläufig heißen, dass die Schutzwirkung der Impfung aktuell deutlich unter 50% liegt.

Die Tatsache, dass wir aktuell in Deutschland Rekordinfektionszahlen verzeichnen bedarf meiner Auffassung einer umfassenden Analyse, wie sich der Impfstatus bei diesen Infektionen aufteilt, und über wie viele absolute Fallzahlen wir in den einzelnen Gruppen reden, so wie es Lübeck und Schleswig-Flensburg vorgemacht haben. Ob deren Werte auf ganz Deutschland näherungsweise zu übertragen sind? Ich weiß es nicht, könnte es mir aber sehr gut vorstellen.

Fakt ist aus meiner Sicht jedoch auch, dass wir bei grundsätzlich gleicher Infektionswahrscheinlichkeit wie vor einem Jahr jetzt niedrigere Infektionszahlen sehen müssten, selbst wenn die Impfungen nur 50% Schutzwirkung aufweisen würden (vgl. Beispiel 4 oben). Insofern ist es sowohl denkbar, dass aktuelle Virusvarianten ansteckender sind als frühere (=höhere Infektionswahrscheinlichkeit), als auch dass die Tests zur Feststellung von Infektionen sensibler eingestellt wurden (etwa durch Hochfahren der Ct-Werte).

Wenn losgelöst von Ansteckungswahrscheinlichkeit und Ct-Werten die Neuinfektionen mehrheitlich auf vollständig Geimpfte entfallen, dann muss man meiner Auffassung nach den Fokus auch auf die absoluten Zahlen richten. Isoliert auf die einzelnen Gruppen der Geimpften und Ungeimpften geschaut ist es sicher derzeit zutreffend, dass sich Geimpfte eher weniger infizieren als Ungeimpfte. Wenn die absoluten Infektionszahlen bei den Geimpften jedoch höher sind als bei den Ungeimpften, wie in Lübeck und Schleswig-Flensburg, dann halte ich es für absolut irreführend nur die Inzidenzen zu vergleichen und den Schwarzen Peter pauschal bei den Ungeimpften zu suchen. An der Infektionslage würde sich auch bei einer komplett durchgeimpften Bevölkerung nichts ändern, wenn die Schutzwirkung der Impfung gegen Null tendiert.

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