Beitragsbild von Loke_Artemis
Offener Brief von der Mutter Katharina Bies an Mitschüler, Eltern und Schulleitung
SCHULE im JULI 2021
„Bezugnehmend auf die gestrigen Geschehnisse möchten wir auf diesem Wege Kontakt zum Klassenverband und der Elternschaft aufnehmen, um für die Gesamtsituation in der Klasse 8b zu sensibilisieren.
Wir würden uns freuen, mit Ihnen/ Euch in einen Austausch zu treten, gerne auch persönlich, z.B. bei einem gemeinsamen Picknick im Park oder ähnlichem.
Wir wählen den Klassenverteiler, weil es die gesamte Klasse betrifft, es ein gesellschaftspolitisches Thema ist und die Frage im Raum steht, wie wir zukünftig als Gesellschaft im Großen wie im Kleinen miteinander leben möchten.
Seit nunmehr 18 Monaten werden wir nicht nur in einer permanenten Angststimmung gehalten und sehen uns massiven Beschneidungen unserer Grund-, Freiheits-, und Menschenrechte ausgesetzt, sondern erleben einen erschreckenden Verfall unserer Wertegemeinschaft.
Während wir mit Regenbogenfarben für Toleranz und Solidarität werben, geht die öffentliche Meinung dieser Tage mit Vehemenz auf all jene los, die nicht dieselben Thesen vertreten wie einige Fernseh-Virologen.
Diese Form der Intoleranz trägt sich leider bis in die Schulen und Schulklassen hinein, ist mancherorts bereits Teil der Lehre geworden und entlud sich gestern in einer tatsächlich nicht zu tolerierenden Art und Weise.
Im Deutschunterricht wurde in den vergangenen Wochen das Buch „Die Welle“ behandelt.
Es beschreibt ein Experiment, bei dem der Frage nachgegangen wird, ob und wie es möglich ist, eine demokratisch regierte Gesellschaft in eine Diktatur zu überführen und wie leicht es möglich ist, durch Disziplin, Propaganda, Gemeinschaftsgefühl und Druck, Menschen dafür zu gewinnen, sich an der Umsetzung mit Begeisterung zu beteiligen.
Im Weiteren wurde das Milgram-Experiment im Unterricht behandelt.
Auch dieses Experiment geht der Frage nach, ob es möglich ist, mit Hilfe der Gesellschaft ein totalitäres System zu implementieren.
Bei diesem Experiment gingen 63 Prozent bis zum Äußersten – 63 Prozent der Probanden versetzten im Milgram Experiment einem unschuldigen Menschen wissentlich einen potentiell tödlichen Stromstoß, nachdem sie von einer Autoritätsperson dazu aufgefordert worden waren.
Das Experiment zeigt, dass zwei Drittel einer zivilisierten, demokratisch regierten Gesellschaft Anordnungen einer Regierung bedingungslos folgen, ohne zu überlegen und ohne diese zu hinterfragen.
Zwei Drittel legen die Verantwortung für ihr Handeln vertrauensvoll in die Hände von Obrigkeiten.
„Warum haben Sie den potentiell tödlichen Stromstoß gesetzt?“
„Ich bin davon ausgegangen, dass die Professoren des Instituts wissen, was sie tun. Warum sollte ich anzweifeln, dass sie das Richtige tun?“
Autokraten brauchen nur Millionen Funktionäre, die Regeln unkritisch und gewissenhaft ausführen – Polizisten, Ärzte, Lehrer, Universitätsprofessoren, Politiker, Wissenschaftler, Chefredakteure, Filialleiter, Anwälte, Richter, Vereine, Verbände, Bürger.
So wird die Verantwortung auf viele verteilt und kaum einem ist bewusst, dass er der millionste Teil eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit ist.
Desweiteren wurde das Konformitätsexperiment von Solomon Asch behandelt.
Das Asch-Experiment untersucht den Einfluss einer Gruppe auf die eigene Wahrnehmung und die eigene Meinung.
75 Prozent der Probanden haben sich von der Gruppenmeinung so beeinflussen lassen, dass sie entgegen ihrer eigenen Wahrnehmung eine gruppenkonforme Antwort gegeben haben.
Abschließend sollte im Deutschunterricht ein Vortag zur „Weißen Rose“ gehalten und ein Bezug zum Buch „Die Welle“ und den beschriebenen Experimenten hergestellt werden.
Die „Weiße Rose“ war eine studentische Widerstandsgruppe, die sich 1943 um die Geschwister Scholl bildete.
Die „Weiße Rose“ verfasste sechs Flugblätter und brachte diese in Umlauf. Mit den Flugblättern machten sie auf die Missstände ihrer Zeit aufmerksam, betrieben Aufklärung und riefen zum Widerstand auf.
Die führenden Mitglieder der „Weißen Rose“ bezahlten ihr Engagement mit dem Leben.
Im Buch „Die Welle“ gibt es ebenfalls eine Protagonistin, die sich dem Konformitätsdruck der Gruppe entzieht.
Laurie sieht die sich abzeichnenden Entwicklungen der Welle-Bewegung kritisch und betreibt, ebenfalls mit Hilfe von Flugblättern, Aufklärung und äußert ihre Bedenken.
Unsere Tochter hat gemeinsam mit einer Klassenkameradin gestern eben jenen Vortrag gehalten.
Im Rahmen des Vortrags haben die beiden sich erneut mit der Frage auseinandergesetzt, wie leicht es wohl heute ist, demokratische Strukturen durch totalitäre zu ersetzen.
Aus der Beobachtung der Geschehnisse der vergangenen 18 Monate und aus persönlicher Betroffenheit heraus haben sie im Rahmen ihres Vortrags Parallelen sowohl in struktureller, historischer, gesellschaftlicher, soziologischer und politischer Hinsicht herausgearbeitet.
Sie haben sich mit der Thematik der Manipulation, Propaganda und Massenpsychologie auseinandergesetzt und sie haben die Bedeutung von Aufklärung und Widerstand erörtert.
Wie Laurie aus „die Welle“ haben sie entschieden, ihre Mitschüler auf aktuelle Missstände, Parallelen und bedenkliche Tendenzen hinzuweisen sowie Gegenthesen zu vorherrschenden Auffassungen zu liefern.
Der erhoffte sachliche Diskurs entwickelte sich leider derart, dass unter dem Applaus einiger Mitschüler und dem Schweigen der Übrigen die Forderung laut wurde, man solle Menschen anderer Meinung vergasen und wünsche den beiden Mädchen den Tod.
Wir sind uns sicher, dass den Beteiligten die Tragweite ihrer Äußerung nicht bewusst war.
Dennoch zeigt dieses Beispiel in erschreckender Art und Weise, wo wir als Gesellschaft im Moment stehen.
Wenn Politik und Medien beginnen, Stimmung gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen zu machen und sich diese Gesinnungen bis in alle Bevölkerungsschichten verbreiten, wenn wissenschaftliche Meinungen der Zensur unterliegen und jeder Diskurs im Keim erstickt wird, wenn wir in unseren Mitmenschen eine stete Bedrohung sehen sollen, wenn individuellen Gesundheitsfragen mit politischem und sozialem Druck begegnet werden, wenn Konformität statt Selbstbestimmtheit an Schulen gelebt wird, wenn Widerspruch bußgeldbehaftet ist und die Würde des Menschen mit Zustimmung der Bevölkerung angetastet werden darf – Wo stehen wir dann als Gesellschaft?
Und wo wollen wir hin?
Unsere Kinder sind diejenigen, die unter der Gesamtsituation am allermeisten leiden. Unsere Kinder sind es, denen es an einer Lobby fehlt.
Es ist an uns, sie zu schützen, sie zu stärken und zu selbständigen, kreativen, kritisch denkenden, aufgeklärten und sozialen Menschen zu erziehen – für eine bessere Gesellschaft.
Dies gelingt uns nur gemeinsam als Eltern, Lehrer und Schulleiter.
Vielen Dank!
Pädagogen zeigen Gesicht: https://www.youtube.com/watch?v=wvHS0V1Sz4M
Filmtipp: Corona-Kinder: http://corona-kinder-film.de/
Milgram-Experiment: https://www.youtube.com/watch?v=0MzkVP2N9rw
Asch-Experiment: https://www.youtube.com/watch?v=axm9i0KvMsQ&t=13s