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Grundlage meiner heutigen Überlegungen ist das Transkript des Podcasts „CAN WE PULL BACK FROM THE BRINK?“ von Sam Harris. (Können wir uns vom Abgrund zurückziehen?)
Der Autor betrachtet die aktuellen gesellschaftlichen Verwerfungen aus seiner US-amerikanischen Sichtweise, deutet aber auch transatlantische Verknüpfungen zum Weimarer Deutschland an – die eine Kettenreaktion meiner Gedanken in Gang setzten.
Er beginnt seine Ausführungen mit der Betrachtung der Sozialen Medien:
I think social media is a huge part of the problem.
I’ve been saying for a few years now that, with social media, we’ve all been enrolled in a psychological experiment for which no one gave consent, and it’s not at all clear how it will turn out.
It’s fairly disorienting out there.
All information is becoming weaponized.
All communication is becoming performative.
And on the most important topics, it now seems to be fury and sanctimony and bad faith almost all the time.
Meine Übersetzung:
„Ich denke, Social Media ist ein großer Teil des Problems.
Ich sage schon seit einigen Jahren, dass wir alle mit den sozialen Medien in ein psychologisches Experiment verwickelt sind, für das niemand seine Zustimmung gegeben hat, und es ist überhaupt nicht klar, wie es ausgehen wird.
Es ist ziemlich verwirrend da draußen.
Alle Informationen werden zu Waffen.
Jegliche Kommunikation wird zur Aufführung.
Und bei den wichtigsten Themen scheint es jetzt fast immer Wut und Scheinheiligkeit und Böswilligkeit zu geben.
Jegliche Kommunikation wird zur Aufführung
Hierbei fielen mir als erstes nicht unbedingt die „klassischen“ Sozialen Medien wie Facebook und Twitter ein, sondern Influencer auf YouTube und Instagram, die ihre Follower auf eine Art und Weise an ihrem täglichen Leben teilhaben lassen, dass eine Mutter wie ich dann irritiert bei der Tochter nachfragt, welche Nadine das denn jetzt sei mit dem grünen Daumen – bis dato war mir nämlich weder von ihren Freundinnen noch Arbeitskolleginnen eine mit einem Faible fürs Gärtnern bekannt.
Nein, es handelte sich um eine YouTuberin. *schlägt die Hände vors Gesicht*
Diese Distanzlosigkeit – das scheint mir das Problem mit Social Media zu sein.
Die Welt ist zu einem globalen Dorf geschrumpft. Das bringt Vorteile, ist aber auch verwirrend und emotionalisierend. Weil plötzlich alles, was geschieht, direkt hinter deinem Gartenzaun auf der Dorfstraße passiert.
In gewisser Weise wirkt Social Media wie der Katalysator, durch den Bewegungen, die es schon lange gibt (Stichwort Weimarer Republik), jetzt die kritische Masse erreichen können, die zu mobilisieren ihnen bisher (zum Glück) in den meisten Fällen misslang.
Ein psychologisches Experiment, für das niemand seine Zustimmung gegeben hat
Das in Deutschland seit über 70 Jahren ein anderes psychologisches Experiment abläuft, für das ebenfalls keines der Versuchskaninchen seine Zustimmung gegeben hat, habe ich bereits mehrfach erwähnt. Hier, hier und hier (um nur drei zu verlinken).
Ich habe das „blue eyed workshop“-Experiment der amerikanischen Grundschullehrerin Jane Elliot bereits mehrfach erwähnt.Bereits nach EINER WOCHE glauben Kinder, nur aufgrund ihrer Augenfarbe minderwertig zu sein und akzeptieren Rechtebeschneidung. Das läuft hier seit >70 Jahren
Wir sehen aktuell, dass auf beiden Seiten des Atlantiks in den (einst) großen Wirtschafts- und Kulturnationen des Westens das gleiche abläuft – ins Gewalttätige ausufernde Proteste einerseits und das „Reiten“ der Welle der gesellschaftlichen Hypermoralisierung durch politische und NGO-Protagonisten andererseits.
Das – grob vereinfacht – Gleiche, allerdings unter völlig anderen Vorzeichen (man kann die USA weder hinsichtlich sozialer Absicherung, Homogenität der Gesellschaft noch Ausbildung der Polizei mit Europa und Deutschland vergleichen).
Allerdings mit ähnlicher Stoßrichtung.
Aus der Geschichte lernen
Ich hatte erwähnt, dass Sam Harris‘ Erwähnung der Weimarer Republik bei mir die Initialzündung auslöste, diesen Essay zu verfassen.
And it could well kick open the door to a level of authoritarianism thatmany of us who have been very worried about Trump barely considered possible.
It’s always seemed somewhat paranoid to me to wonder whether we’re living inWeimar Germany. I’ve had many conversations about this. I had Timothy Snyder on the podcast, who’s been worrying about the prospect of tyranny in the US for several years now.
I’ve known, in the abstract, that democracies can destroy themselves.
But the idea that it could happen here still seemed totally outlandish to me.
It doesn’t anymore.
Meine Übersetzung:
„Und es könnte durchaus die Tür zu einem Maß an Autoritarismus aufstoßen, das viele von uns, die sich große Sorgen um Trump gemacht haben, kaum für möglich gehalten haben.
Es kam mir immer etwas paranoid vor, mich zu fragen, ob wir in Weimar-Deutschland leben. Ich habe viele Gespräche darüber geführt. Ich hatte Timothy Snyder im Podcast, der sich schon seit einigen Jahren Sorgen über die Aussicht auf eine Tyrannei in den USA macht.
Ich wusste, abstrakt gesehen, dass Demokratien sich selbst zerstören können.
Aber die Vorstellung, dass dies hier geschehen könnte, erschien mir immer noch völlig abwegig.
Heute ist das nicht mehr der Fall.“
Es ist ein überaus hehrer Ansatz, aus der Geschichte lernen zu wollen; ob und wie es gelingen kann, aus dem Studium der Fehler anderer eigene zu vermeiden erscheint mir (von wenigen Ausnahmen) mehr und mehr unmöglich, wenn schon ein freundlicher Hinweis in Sachen eigene Fehler hinsichtlich der artgerechten Ernährung der Katze zu einem Mini-Shitstorm führt.
Blick in den Rückspiegel – oder auf die Straße vor uns?
Mitunter kommt es mir so vor als versperre – insbesondere hier in Deutschland – ein überdimensionierter „Rückspiegel“ der Fixierung auf die Vergangenheit den Blick auf die aktuelle Realität. Von der Zukunft ganz zu schweigen.
Betrachtet man die tägliche Twitterflut, dann gab es noch nie zuvor so viele „Nazis“ in Deutschland wie heute. (Böse Zungen behaupten, noch nicht einmal während des 3. Reichs.)
Jegliche Kritik mit dem Ansatz eines Widerspruchs, jedes kontroverse Hinterfragen, jeder Finger, der in die inzwischen schwärenden Wunden der „Einzelfälle“ gelegt wird, hat stehenden Fußes eine augenblickliche Ein- und Abwertung des Äußernden in eine Skala von „rechts“, „populistisch“ bis hin zu „rechtsextrem“ und „Nazi“ zur Folge.
Findet man sich in der Situation wieder, dass der Ansatz einer Diskussion derart abgewürgt wird, erhofft man sich auch meist vergeblich Rückendeckung von der breiten Öffentlichkeit. Für die ist man nämlich „selbst schuld“, wenn man es wagt, die zehn Gebote der Alternativlosigkeit in Frage zu stellen.
Gehen wir streitbaren Querdenker nun ein paar Schritte in den Schuhen derer, denen wir zu widersprechen wagen, und fragen uns gnadenlos ehrlich:
Wäre es nicht überaus bequem, wenn wir unsererseits jeglichen Widerspruch unserer Positionen durch ein magisches „Expelliarmus!*“ entwaffnen könnten?
Ping – Pong
Nach diesem „Ping“ der Situationsbeschreibung in Deutschland nun zum „Pong“: Dem, was Sam Harris in Bezug auf die aktuellen Strömungen in den USA benennt:
Racism is still a problem in American society. No question.
And slavery—which was racism’s most evil expression—was this country’s founding sin.
We should also add the near-total eradication of the Native Americans to that ledger of evil.
Any morally sane person who learns the details of these historical injustices finds them shocking, whatever their race.
And the legacy of these crimes—crimes that were perpetrated for centuries—remains a cause for serious moral concern today.
Meine Übersetzung:
„Rassismus ist in der amerikanischen Gesellschaft immer noch ein Problem.
Das steht außer Frage. Und Sklaverei – der schlimmste Ausdruck des Rassismus – war die Gründungssünde dieses Landes.
Wir sollten auch die fast vollständige Ausrottung der Ureinwohner Amerikas zu dieser Bilanz des Bösen hinzufügen.
Jeder moralisch gesunde Mensch, der die Einzelheiten dieser historischen Ungerechtigkeiten erfährt, findet sie schockierend, unabhängig von seiner Rasse.
Und das Vermächtnis dieser Verbrechen – Verbrechen, die jahrhundertelang begangen wurden – gibt auch heute noch Anlass zu ernster moralischer Besorgnis.“
Das „Pong“ besteht hier darin, dass die Protagonisten der aktuell sich Bahn brechenden Bewegung in den USA augenscheinlich ein Beispiel genommen haben an dem, wie den 68ern in Deutschland ihr Marsch durch die Institutionen gelang:
Erbsünde
Obgleich in der christlichen Theologie die Erbsünde durch den Ritus der Taufe getilgt wird, feiert sie in der proklamierten öffentlichen Meinung derzeit unfröhliche Urständ:
Qua Abstammung (nicht Geburt; hier wird säuberlich zwischen „Biodeutschen“ und jenen mit „Migrationsvordergrund“ unterschieden; in wieweit dies unter Rassismus zu subsumieren sei wäre Thema eines eigenen Essays …) erwirbt jeder Deutsche die Erbsünde des unter Hitler begangenen Holocaust und den Folgen des vom Deutschen Reich angezettelten 2. Weltkriegs..
Oben haben wir festgestellt, wie vorteilhaft es sich erweist, wenn man Gegner durch solch ein Konstrukt Harry-Potter-gleich entwaffnen kann.
Ich vermute, dass die US-amerikanischen Protagonisten sich den Umgang mit der deutschen Erbsünde als Vorbild für ihre aktuelle Stoßrichtung „Black lives matter“ genommen haben.
Denn, wie Sam Harris schreibt: „das Vermächtnis dieser (US-amerikanischen) Verbrechen gibt auch heute noch Anlass zu ernster moralischer Besorgnis.“
Zeit also, den heutigen Amerikanern die Verantwortung für Taten ihrer Vorväter und Ahnen aufzudrücken – auf dass sie sich ebenso marionettengleich ferngesteuert lenken lassen wie der deutsche Michel.
Cui bono?
Und wem nützt das? Sehen wir uns wieder an, was Sam Harris schreibt:
On top of that, we find extraordinarily privileged people, whatever the color of their skin—people who have been living wonderful lives in their gated communities or 5th avenue apartments—and who feel damn guilty about it—they are supporting this movement uncritically, for many reasons.
Of course, they care about other people—I’m sure most of them have the same concerns about inequality that I do—but they are also supporting this movement because itpromises a perfect expiation of their sins.
If you have millions of dollars, and shoot botox into your face, and vacation on St. Bart’s, and you’re liberal—the easiest way to sleep at night is to be as woke as AOC and like every one of her tweets.
The problem isn’t just with the looting, and the arson, and the violence. There are problems with these peaceful protests themselves.
Meine Übersetzung:
„Darüber hinaus begegnen wir außerordentlich privilegierten Menschen, unabhängig von ihrer Hautfarbe – Menschen, die in ihren Gated Communities oder 5th-Avenue-Wohnungen ein wunderbares Leben geführt haben und die sich deswegen verdammt schuldig fühlen -, die diese Bewegung aus vielen Gründen unkritisch unterstützen.
Natürlich kümmern sie sich um andere Menschen – ich bin sicher, die meisten von ihnen haben die gleichen Bedenken hinsichtlich der Ungleichheit wie ich -, aber sie unterstützen diese Bewegung auch, weil sie eine perfekte Sühne für ihre Sünden verspricht. Wenn man Millionen von Dollar hat und sich Botox ins Gesicht spritzt und Urlaub auf St. Bart’s macht und liberal ist – die einfachste Art, nachts zu schlafen, ist, so woke zu sein wie Alexandria Ocasio-Cortez und wie jeder ihrer Tweets.
Das Problem liegt nicht nur in der Plünderung, der Brandstiftung und der Gewalt. Es gibt auch Probleme mit diesen friedlichen Protesten selbst.“
Außerordentlich privilegierte Menschen auf der Suche nach der perfekten Sühne für ihre Sünden
Wem fallen bei dieser Überschrift nicht sofort die Protagonisten der aktuellen Bewegungen in Deutschland ein?
Seien es die jungen Darstellerinnen (es schließt sich der Kreis zu „Jede Kommunikation wird zur Aufführung“) die mit dem Silberlöffel im Mund geboren wurden wie „Langstrecken-Luisa“, „Kapitänin Rackete“ und Carla Reemtsma.
Seien es Migranten, die ihren Hass ausschütten über ein Deutschland, das ihnen überhaupt erst ihre Privilegien ermöglicht hat wie Hengameh Yaghoobifarah, Deniz Yücel oder Mohamed Amjahid.
Sie fühlen sich schuldig, suchen nach Sühne – und weil sie nicht allein sein wollen in ihrer Schuld, fordern sie, dass alle anderen mit ihnen Sühne tun sollen.
Auch diejenigen, denen die psychologischen Experimente, die derzeit laufen, nichts anhaben konnten.
Ver-rückt.
In diesem Sinne: Bleibt gesund (auch und vor allem im Kopf) und probiert immer testweise ein Paar Schuhe aus, das euch angeboten wird, bevor ihr urteilt.
Ich finde insbesondere Ihre Ausführungen zur „Erbschuld“ sehr treffend. Ich bin nach dem Krieg geboren und habe mich in keinster Weise schuldig gefühlt. Selbstverständlich möchte ich auch nicht, dass derartige Gräueltaten wieder geschehen. Daher halte ich Aufklärung – und NUR Aufklärung – für wichtig. Nicht angemessen finde ich die ständige Betonung dieser Erbschuld, denn bis auf einige wenige Menschen hat niemand mehr diese Zeit erlebt, politisch und gesellschaftlich in dieser Zeit agiert und mehr oder weniger (im Guten wie im Schlechten) die Gesellschaft mitgestaltet.
Viele Menschen jedoch lassen sich einreden, dass sie schuldig sind, und werden meines Dafürhaltens gerade dadurch zu Opfern von neuen Ideologien, die in unterschiedlichen Gewändern daher kommen. Das selbständige Denken, Abwägen und kritische Beurteilen wird ausgeschaltet. Hier sehe ich eine große Gefahr für die Gesellschaft – die Passivität der Bürger, die vieles nicht mehr hören können oder wollen – und die dann Schafen gleich einer Ideologie folgen, die Erleichterung verspricht. Der beste Boden für ambitionierte Politiker, ihre Agenden durchzusetzen (was auch immer diese sein mögen). Eine sehr unruhige und gefährliche Zeit, die nur dadurch bewältigt werden kann, dass kritische Reflektion der kommunizierten Inhalte stattfindet und dies auch den nachfolgenden Generationen vermittelt wird.
Eine tolle Diskussion zum Essay findet auf Twitter statt:
https://twitter.com/katharina_munz/status/1278264789328900096?s=20
Ich weiß nicht, ob wir tatsächlich am Abgrund sind, aber wir haben viel getan, um dorthin zu kommen.
Toller Artikel. Werde den später noch einmal rauskramen müssen.
Vielen Dank